Forschungsprogramm

Improvisation als Forschungsgegenstand

Improvisation hat Konjunktur – nicht nur in den Künsten. In zunehmendem Maße erkennen auch Forschung und Wissenschaft in der Improvisation einen Handlungstypus von besonderer Relevanz. Das war keineswegs immer so. Gegenüber den Kunstwerken der europäischen Kulturgeschichte galt das künstlerisch-musikalische Improvisieren nicht nur wegen seiner Flüchtigkeit, sondern auch aufgrund seiner vermeintlichen Unreflektiertheit und seines Mangels an Ausarbeitung lange Zeit als Praxis von minderem Wert. Improvisation war ein Spezialgebiet vor allem von Ethnolog*innen und Pädagog*innen. Sowohl vor dem Hintergrund eines Paradigmenwechsels in den Geistes- und Kulturwissenschaften – vom Werk zum Ereignis, von der Kultur als Text zur Kultur als Praxis – als auch im Zuge neuerer Kreativitätsforschung ist eine weitreichendere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit musikalischer Improvisation in Gang gekommen. Dies belegen zahlreiche in den vergangenen Jahren entstandene Forschungsprojekte und Einzelstudien etwa im Bereich der Jazzforschung, der Popular Music Studies,  in der Musiksoziologie und Musikpsychologie, zunehmend auch in der historischen Musikwissenschaft.

Längst hat Improvisation den Nimbus des Anarchischen verloren und zeigt sich allenthalben als ästhetisches Modell sozialer Praxis, als Paradigma kollektiver Kreativität, als modus operandi experimentellen Forschens, mitunter sogar als Vorbild unternehmerischen Handelns. Offensichtlich besteht in wachsendem Maße ein gesellschaftliches Interesse an improvisatorischer Kompetenz, an improvisatorischem Wissen sowie an dessen wissenschaftlicher und künstlerischer Erforschung.

Musikalische Improvisation und praxisbasierte Wissensforschung

Das interdisziplinär zwischen Musikwissenschaft, Pädagogik und Soziologie angelegte Projekt »Improvisierendes Wissen« erforscht die Entstehung des Wissens und die Organisation des Lernens improvisierender Musiker*innen. Zugleich sollen Methoden einer praxisbasierten, empirischen Forschung zur Wissenskonstruktion in musikalischer Praxis entwickelt werden. Im Fokus steht nicht das individuelle Wissen isolierter Subjekte, sondern das soziale Wissen lernender Gruppen, mithin also das Wissen musikalischer communities of practice. Dabei richtet sich das Forschungsinteresse sowohl auf die Ausbildung  ästhetischer Kriterien und Wertmaßstäbe in der Gruppenimprovisation als auch auf die Kompetenzen, diese Kriterien im gemeinsamen Spiel umzusetzen.

In seiner ersten Arbeitsphase erforscht das Projekt improvisierende Lernpraktiken im institutionalisierten Kontext. Im Rahmen einer Pilotstudie werden zu Vergleichszwecken zwei aufeinanderfolgende Längsschnittstudien an musikpädagogischen Instituten deutschsprachiger Universitäten durchgeführt. Die Untersuchungsform ist das qualitative Experiment: Im Rahmen von Improvisationsworkshops durchlaufen Studierendenensembles abwechselnd Phasen angeleiteten und selbstständigen künstlerischen Lernens. Der musikalische Arbeitsprozess der Studierenden wird videographisch dokumentiert und anhand von Interviews beforscht. Das Ziel dieser Studien, an denen Lehrende und Lernende der Fächer Musik und Musikpädagogik teilnehmen, besteht in einem Vergleich zwischen zwei grundsätzlich unterschiedlichen Lernformen: einerseits dem fremdinitiierten, d.h. durch eine Lehrperson organisierten Lernen, und andererseits einem selbstinitiierten, d.h. von den Lernenden selbst organisierten Lernen.

Die zweite Arbeitsphase des Projekts untersucht informelle, autodidaktische Lernprozesse improvisierender Musiker*innen außerhalb akademischer bzw. institutionalisierter Kontexte. Unter Anwendung der in der ersten Arbeitsphase erprobten Methoden sollen in einer Kombination von Feldexperiment und fokussierter Ethnografie die Strategien und Taktiken des ›wilden Lernens‹ selbstorganisierter Szenen und Praxisgemeinschaften der Improvisation dokumentiert und erforscht werden.

Improvisation als transkulturelle Praxis?

Als erhebliche Herausforderung für eine kulturwissenschaftlich und soziologisch informierte Musikwissenschaft und Musikpädagogik stellt sich die Frage nach der Erforschung musikalischen Improvisierens in transkultureller Perspektive: Einerseits besteht ein Problem in der Generalisierung spezifischer Improvisationsbegriffe, seien diese nun von europäischen oder afroamerikanischen Kunstverständnissen geprägt. Hinderlich ist dabei vor allem die noch immer verbreitete Anwendung vermeintlich allgemeingültiger Kategorien wie etwa Spontaneität, Unvohersehbarkeit, Ereignishaftigkeit etc. auf eine Vielzahl globaler Musikkulturen und Praxen, deren Spezifika weder durch diese Konzepte noch durch eine Differenz von Improvisation und Komposition hinreichend beschrieben werden können. Andererseits lässt sich nicht leugnen, dass musikalische Improvisation – verstanden nicht als Kunstform sondern als Methode – über das 20. Jahrhundert hinweg eine beachtliche Dynamik transkultureller Übersetzungsprozesse entfaltet hat. Vor diesem Hintergrund verbindet sich die Frage nach dem Wissen der Improvisation mit dem Anliegen, Begriffe und Praktiken des Improvisierens als Szenarien der Aushandlung und Befragung kultureller Differenz zu verstehen und zu erforschen.